Editorial
Der "Quasi"- Chemie-Nobelpreis
Die Vergabe des diesjährigen Chemie-Nobelpreises – liebe LABO-LeserInnen – liegt zwar schon ein paar Tage zurück, ist aber immer noch der Rede wert. Denn es wurde ein hartnäckiger Querdenker ausgezeichnet, der etwas fand, was es nach gängiger Meinung damals eigentlich gar nicht geben konnte. Heute nennt man sie Quasikristalle, was fast so widersprüchlich klingt wie Flüssigkristalle. Daniel Shechtman heißt der Preisträger, der 1941 in Tel Aviv geboren wurde und nach der Schule Materialwissenschaften und Maschinenbau am Technion (Technische Universität Israels in Haifa) studierte, wo er 1972 auch promovierte und später eine Professur erhielt.
Während eines zweijährigen Forschungsaufenthalts am National Bureau of Standards (inzwischen National Institute of Standards, NIST) in den USA analysierte er am 8. April 1982 auf der Suche nach neuen Werkstoffen die Kristallstruktur einer nach dem Schmelzspinnverfahren rasch „abgeschreckten“ Aluminium-Mangan-Legierung mittels Elektronenmikroskopie. Die durch die Probe gejagten Elektronen erzeugten zwar ein scharfes Beugungsbild, was nur kristalline Materialien liefern. Aber das Beugungsmuster wies eine fünfzählige Drehsymmetrie auf, was selbst Shechtman für unmöglich hielt. Denn – um es vereinfacht auszudrücken: Genauso wenig wie sich durch Fünfecke eine Fläche ohne Lücken bedecken lässt, so kann auch kein Raum durch Körper mit fünfzähliger Symmetrie (z.B. Ikosaeder) ohne Zwischenräume ausgefüllt werden.
Da er keinen Fehler in seinem Experiment finden konnte, informierte er seine amerikanischen Kollegen über seine Entdeckung. Die aber glaubten, dass er einem Artefakt aufgesessen sei, und wollten seine Entdeckung auch nicht überprüfen. Und so kehrte er frustriert ans Technion zurück, wo er einige israelische Kollegen von den Merkwürdigkeiten seiner Al-Mn-Legierung überzeugen konnte und mit Koautoren im November 1984 einen Artikel in den renommierten „Physical Review Letters“ veröffentlichte. Doch unter den Kristallographen erntete er nur Hohn und Spott.
Allerdings erinnerten sich einige Forscher, dass sie ebenfalls schon derartige Beugungsmuster bei ihren Untersuchungen fanden, diese aber als Fehlmessungen interpretierten und nicht weiter verfolgten. Mathematische Berechnungen brachten dann die Lösung: Im Gegensatz zu normalen Kristallen, bei denen die Ionen, Atome oder Moleküle dreidimensional periodisch angeordnet sind, sind sie in Quasikristallen aperiodisch sortiert – vergleichbar mit den kompliziert arrangierten Kacheln in den Ornamenten der Alhambra. Die Muster gleichen, wiederholen sich aber nicht.
Inzwischen kennt man ungefähr hundert dieser Quasikristalle, darunter auch natürlich vorkommende. Und Forscher auf der ganzen Welt sind mit Hochdruck dabei, die Anwendungen dieser neuen Materialien auszuloten.
Nicht nur seine bahnbrechenden Entdeckungen, sondern auch seine Standfestigkeit wurden vom Nobelpreiskomitee gewürdigt. Shechtman ist damit seit längerer Zeit wieder ein Forscher, der alleine den Preis in Chemie erhielt.
Und was sagt uns die Geschichte? Querdenker werden leider immer noch allzu oft mit Querulanten verwechselt!
Dr. Hans-Jürgen Hundrieser