Editorial
Orakel aus dem Reagenzglas – oder das 1000-Euro-Genom
In die Zukunft blicken zu können – liebe LABO-Leser –, war schon immer ein Traum der Menschheit. Dass es nicht funktioniert, wissen eigentlich alle aufgeklärten Leute und das nicht erst seit gestern. Dennoch finden mehr als genug Scharlatane immer noch ausreichend zahlungsfähige Opfer, um beispielsweise für diese in die Kristallkugel zu blicken oder ihnen aus den Händen zu lesen. Viele wüssten eben nur zu gerne, welche Krankheiten oder Gebrechen ihnen drohen, um eventuell noch vorbeugen zu können.
Und mit genau diesem Wissensdurst wollen jetzt immer mehr Labors Kasse machen. Sie versprechen, durch die komplette Genomanalyse potenzielle Zeitbomben im Körper eines Kunden rechtzeitig aufspüren zu können. Zurzeit kostet so ein Genomic Scan noch ein paar tausend Euro (zum Vergleich: Das Humane Genomprojekt verschlang ca. drei Milliarden Euro), aber die Preise sind am Purzeln. Denn die Sequenziergeräte werden immer leistungsfähiger. Und so ist das „1000-Euro-Genom“ fast schon in Sichtweite – ein auch für Normalbürger dann bezahlbarer „Spaß“. Bestellscheine für solche Analysen findet man inzwischen beispielsweise schon im Internet. Dann muss man nur noch eine Speichelprobe oder einen Mundhöhlenabstrich dort hin senden und erfährt danach sozusagen alles über sein Erbmaterial.
Doch was hat man denn eigentlich davon? Wem nützt es zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit einmal an Lungenkrebs zu erkranken um fünf Prozent höher oder zehn Prozent niedriger ist als beim Durchschnitt? Denn nichtrauchen sollte man auf jeden Fall. Oder wer möchte wirklich erfahren, dass er irgendwann an einer dann vermutlich immer noch unheilbaren Krankheit leiden wird? Außerdem sind die wenigsten Krankheiten monokausal, beruhen also auf Mutationen in mehreren Genen. Bei Rheuma oder Demenz müssen viele, vielfach auch noch unbekannte Faktoren zusammenkommen, bis die Krankheit ausbricht. Außerdem spielen auch Umwelteinflüsse und persönliche Verhaltensweisen eine Rolle, die mit unseren Genen rein gar nichts zu tun haben, auf die wir aber selbst zumindest etwas Einfluss nehmen können.
Es gibt aber – wie immer im Leben – auch hier Ausnahmen, die nicht verschwiegen werden sollen und bei denen eine solche Analytik sinnvoll ist. So kennt man inzwischen Gene, die darüber bestimmen, ob man ein Medikament verträgt oder ob man sich damit vergiftet. Auch bei bestimmten Formen von Brustkrebs kann es sinnvoll sein, die genetische Prädisposition abzuklären, um durch vermehrte Vorsorgeuntersuchungen das Erkrankungsrisiko zu minimieren. Bei der Leukämiebehandlung wiederum konnten vorher durchgeführte Genanalysen schon die Heilungschancen erhöhen. Für solche diagnostischen Tests muss man aber nicht gleich das komplette Genom durchforsten, Teile davon reichen völlig aus.
Gäbe es das „1000-Euro-Genom“ schon heute: Selbst dann würde ich für dieses Geld lieber gut essen und trinken und/oder in Urlaub fahren. Denn ich glaube, damit tue ich mehr für meine Gesundheit! Außerdem: Nicht-alles-und-jedes-wissen ist ein sanftes Ruhekissen. Statt dem Kaffeesatzlesen in den Genen sind Vorsorgeuntersuchungen die bessere Alternative.