Von der Vision zum Paradigmenwechsel
Chancen und Herausforderungen mikrofluidischer Organ-on-a-Chip-Systeme in der Arzneimittelentwicklung
Mikrophysiologische Systeme und Human-on-a-chip-Plattformen streben eine hohe physiologische Relevanz und somit eine dem menschlichen Vorbild ähnliche Antwort auf eine Substanzapplikation an. Dies wird auf lange Sicht eine enorme Beschleunigung in der Arzneimittelentwicklung bedeuten.
Die Entwicklung neuartiger Medikamente ist ein kostspieliges und zeitaufwändiges Unterfangen. Der traditionelle Weg der Entwicklung und Testung eines Wirkstoffes bis hin zur Marktreife dauert im Schnitt 13,5 Jahre und ist nur selten von Erfolg gekrönt. Allein in den kostenintensiven und manchmal hoch riskanten klinischen Phasen der Testung scheitern rund 85 % der Substanzen aufgrund von mangelnder Sicherheit oder Wirksamkeit. Dies ist vor allem auf die traditionelle vorklinische Medikamentenentwicklung zurückzuführen, welche häufig noch auf Tiermodellen und stark vereinfachten Zellkulturmodellen beruht. Spätestens seit dem Contergan-Skandal ist auch der breiten Öffentlichkeit bewusst, dass sich die Ergebnisse aus Tierversuchen nicht immer 1:1 auf den Menschen übertragen lassen.
In den vergangenen Jahrzehnten hat es auf Seiten der In-vitro-Kultivierung von Zellen viele Fortschritte gegeben. So wurden verschiedenste dreidimensionale, organotypische Gewebekulturen entwickelt, die auf kleinstem Maßstab gewisse Reaktionen auf eine Substanzgabe widerspiegeln. Dabei werden vorzugsweise Zellen humanen Ursprungs verwendet – häufig primäre oder induziert pluripotente (iPS) Zellen. Einzel-Organ-Modelle vernachlässigen jedoch die komplexeren Wechselwirkungen zwischen Organen, welche somit bisher nur im Tier getestet werden konnten. Zudem weisen Organmodelle, die statisch kultiviert werden, meist nur eine begrenzte Lebensdauer und einen limitierten Grad der Differenzierung auf.
Mikrophysiologische Systeme (MPS), die physiologisch relevante Organmodelle unter konstanter Medienperfusion kultivieren, wurden zur Bewältigung dieser Aufgabe konzipiert. Kanäle im Mikrometermaßstab verbinden hier die Modelle und sorgen für einen kontinuierlichen Transport von Nährstoffen, Substanzen und Stoffwechselproduktion.
Es können auch physikalische Stimuli wie Schubspannungen, Dehnung und Druck ausgeübt werden, um äquivalente Vorgänge im Körper möglichst naturgetreu nachzustellen. Sensoren und Elektroden ermöglichen die Überwachung verschiedener Parameter (wie z.B. von pH, Sauerstoffpartialdruck, Konzentration gelöster Stoffe) und erlauben eine elektrische Stimulation bestimmter Gewebe (wie z.B. von Herzzellen). Das alles schafft eine wichtige Voraussetzung für die Simulation komplexer Organe – in-vivo-ähnliche Kulturbedingungen, die zu einer ausgeprägten gewebetypischen Differenzierung führen. Diese Systeme ermöglichen somit oft eine verbesserte Vorhersage über die Wirkung einer Substanz und lassen auf einen Paradigmenwechsel in der Arzneimitteltestung hoffen – weg von vereinfachten Zellkultur- und Tiermodellen hin zu vorhersagekräftigeren MPS.
MPS – Mikrophysiologische Systeme
Mikrophysiologische Systeme besitzen ein breites Anwendungsspektrum. So werden manche Systeme zur Grundlagenforschung und der Aufklärung der Entstehung von Krankheiten und deren Bekämpfung genutzt. Andere Systeme wurden für toxikologische Untersuchungen von Medikamenten, Kosmetika und Chemikalien entwickelt. Dementsprechend ist auch der technologische und biologische Hintergrund der MPS vielfältig. Dies spiegelt sich auch in der Art der Medienzirkulation durch die Mikrokanäle wieder. Eine aktive Zirkulation mit Hilfe von Mikropumpen steht hier der passiven, durch Gravitation getriebenen Versorgung der Organe entgegen.
Auch die Größe und Komplexität der MPS variiert stark. Systeme mit den Abmaßen einer Mikrotiterplatte werden häufig für den Hochdurchsatz in frühen Phasen der Substanztes-tung und -entwicklung eingesetzt. Die komplexeren Organ-on-a-Chip-(OOC-)Systeme weisen meist eine individuelle Plattform und zusätzliche Funktionalitäten auf. Ein bekanntes OOC-Modell ist das Lungenmodell des Wyss Institutes der Harvard Universität, das 2010 in Science publiziert wurde. Hier wurden Lungen-epithelzellen auf einer elastischen Membran unter kontinuierlicher Medienversorgung und mechanischen Belastung kultiviert. Die Simula-tion einer Entzündungsreaktion (Beaufschlagung mit Bakterien oder Zytokinen) resultierte in einer physiologischen Antwort der Epithelzellen. Dieses und andere Ein-Organ-Systeme be- sitzen großes Potenzial in der Erforschung organspezifischer Mechanismen und Reaktionen. Doch um die Wirkungsweise von Substanzen auf einen gesamten Organismus zu studieren, bedarf es eines systemischen Ansatzes.
Die Verknüpfung mehrerer relevanter Organmodelle in einer möglichst physiologischen Anordnung in einem gemeinsamen Blutkreislauf ist von größter Bedeutung. So können die Effekte der Aufnahme einer Substanz in den Körper, deren Verteilung und Einflüsse der Metabolisierung studiert werden. Um eine direkte Interpretation der Ergebnisse aus den MPS zu ermöglichen, sollte die Skalierung der Organe untereinander, das Verhältnis von Medium zu Gewebe und die Medienversorgung der einzelnen Organe möglichst getreu den In-vivo-Parametern folgen.
Multi-Organ-Chip mit naturgetreuer Versorgung
Ein vielversprechender Ansatz zur Skalierung von Multi-Organ-Systemen bezieht sich auf die kleinsten funktionellen Einheiten eines jeden Organs – den Organoiden. Diese strukturellen Einheiten sind in allen Geweben zu finden und spiegeln die kompletten Funktionen des gesamten Organes im Kleinen wider. Sie erlauben eine relative Dimensionierung der Organe zueinander nach dem menschlichen Vorbild [1].
Ein Multi-Organ-System, das diese Art der Skalierung anwendet und zudem auf eine naturgetreue Versorgung der Organe achtet, ist der Multi-Organ-Chip. Dieses System wurde an der Technischen Universität Berlin und ihrem Spin-Off Tissuse GmbH entwickelt: Auf der Größe eines Objektträgers enthält der Chip mehrere Kompartimente für jedwede Co-Kultur dreidimensionaler Gewebeäquivalente. Eine integrierte Mikropumpe fördert eine Nährlösung durch die mikrofluidische Zirkulation, die die Organoide miteinander verbindet. Das System verfügt über ein so geringes Volumen an Nährmedium, dass die Kommunikation und Interaktion der Organoide untereinander sichergestellt wird. Auf diesem Chip konnten bereits Co-Kulturen von Leberäquivalenten mit Hautäquivalenten über einen Zeitraum von 28 Tagen in Homöostase gehalten werden [2].
Auch Kulturen von Leber mit Darmmodel-len oder Neurosphäroiden zeigten Organ-Organ-Interaktion sowohl in Homöostase als auch nach Substanzapplikation [3,4]. Der 2015 publizierte Vier-Organ-Chip war der erste, der durch die Integration von Haut-, Darm-, Leber- und Nierenmodellen in einem gemeinsamen Kreislauf das Absorptions-, Distributions-, Meta- bolismus- und Exkretionsprofil (ADME) einer Substanz nachstellen konnte [5] (Bild 1).
Geschlossener Endothelzellkreislauf
Eine große Herausforderung bei der Co-Kultivierung verschiedener Organmodelle in einem gemeinsamen Blutkreislauf ist die Wahl eines passenden Kulturmediums. Traditionell wird jeder Zelltyp in einem eigens angepassten Medium kultiviert, das oft mit spezifischen Wachstumsfaktoren angereichert ist. Ein passendes Co-Kulturmedium kann nun aus einer Mischung der spezifischen Medien, einem Basalmedium das sich auf die gemeinsamen Komponenten beschränkt oder einem eigens angepassten neuen Medium bestehen. Insbesondere letzteres kann langwierige Optimierungsarbeit bedeuten. Die Integration eines geschlossenen Endothelzellkreislaufes stellt hier eine mögliche Lösung dar.
Ein durchgängiges Kreislaufsystem ist eine Voraussetzung dafür, in Zukunft Nährmedien durch ein Vollblutäquivalent zu ersetzen und somit auch immunologische Aspekte zu adressieren. Zudem ist das Endothelium der Blutgefäße eine physiologische Barriere für mechanischen Stress sowie ein Regulator für die Interaktionen und Homöostase innerhalb der Organoid-(Co-)Kulturen. Dass die Besiedlung der MPS mit Endothelzellen nicht nur möglich ist, sondern auch das Verhalten der Zellen, ihre Vitalität und die Expression bestimmter Marker verbessert, konnte bereits gezeigt werden [6,7].
Vom MPS zum Chip-Patienten
Pharma- und Kosmetikkonzerne testen bereits dieses und andere MPS und nutzen sie zur unternehmensinternen Entscheidungsfindung. Bisher lassen sich jedoch ausschließlich gezielte Fragestellungen an vordefinierten Organmodellen klären. Um einen wahren Paradigmenwechsel in der Arzneimitteltestung zu erreichen, der auch die Zahl der Tierversuche drastisch reduzieren wird, ist ein systemisches Modell erforderlich, welches alle wichtigen Organe in einem empathie- und bewusstseinslosen mi- niaturisierten Organismus auf dem Chip zusammenführt (Bild 2). Die Etablierung von Krankheitsmodellen auf derartigen Chips führt schlussendlich zu „Chip-Patienten“, die noch vor Behandlung der echten Patienten für die Bewertung von Wirksamkeit und Nebenwirkungen der neuen Arzneimittelkandidaten eingesetzt werden können. Die Weiterentwicklung der MPS zu derartigen „Chip-Patienten“ ist daher ein nächstes unumgängliches Entwicklungsziel.
Die involvierten akademischen Forschungsgruppen und industriellen Partner haben für die auch regulatorisch akzeptierte Umsetzung derartiger Entwicklungen noch einen Zeitraum von ca. 15 Jahren veranschlagt. Auf dem Weg dorthin müssen jedoch noch einige Fragestellungen geklärt werden. So muss zum Beispiel eine robuste Bezugsquelle für die benötigten Zellen inklusive ihrer immunologischen Verträglichkeit gefunden werden. Ein vielversprechender Lösungsansatz ist die Nutzung von iPS-Zellen. Mit ihrer Hilfe können in naher Zukunft fast alle Zelltypen eines Organismus aus adulten Zellen differenziert werden.
Fazit
Letztendlich ist die Frage, wie aussagekräftig experimentell gewonnene Erkenntnisse sind, immer darauf zurückführen, wie ähnlich das verwendete Modellsystem dem menschlichen Organismus ist. Mikrophysiologische Systeme und Human-on-a-chip-Plattformen streben eine hohe physiologische Relevanz und somit eine dem menschlichen Vorbild ähnliche Antwort auf eine Substanzapplikation an. Dies wird auf lange Sicht eine enorme Beschleunigung in der Arzneimittelentwicklung bedeuten, welche die Kosten der Wirkstoffentwicklung insgesamt erheblich verringert. Die Auswahl vielversprechender Substanzen könnte bereits lange vor den klinischen Studien starten (Bild 3).
sk
Eva-Maria Dehne, Tobias Hasenberg, Uwe Marx, TissUse GmbH
Literatur
[1] Marx U, Walles H, Hoffmann S, et al. Human-on-a-chip Developments: A Translational Cutting-edge Alternative to Systemic Safety Assessment and Efficiency Evaluation of Substances in Laboratory Animals and Man. ATLA [Internet]. 40(5), 235–57 (2012).
[2] Wagner I, Materne E-M, Marx U, et al. A dynamic multiorganchip for long-term cultivation and substance testing proven by 3D human liver and skin tissue co-culture. Lab Chip [Internet]. 13(18), 3538–47 (2013).
[3] Maschmeyer I, Hasenberg T, Jaenicke A, et al. Chipbased human liver-intestine and liver-skin co-cultures– A first step toward systemic repeated dose substance testing in vitro. Eur. J. Pharm. Biopharm. [Internet]. 95, 77–87 (2015).
[4] Materne E-M, Patricia A, Paula A, et al. A multi-organ chip co-culture of neurospheres and liver equivalents for long-term substance testing. J. Biotechnol. [Internet]. 205, 36–46 (2015).
[5] Maschmeyer I, Lorenz AK, Schimek K, et al. A fourorganchip for interconnected long-term co-culture of human intestine, liver, skin and kidney equivalents. Lab Chip [Internet]. 15, 2688–2699 (2015).
[6] Schimek K, Busek M, Brincker S, et al. Integrating biological vasculature into a multi-organ-chip microsystem. Lab Chip [Internet]. 13(18), 3588–98 (2013).
[7] Hasenberg T, Mühleder S, Dotzler A, et al. Emulating human microcapillaries in a multi-organ-chip platform. J. Biotechnol. [Internet]. 216, 1–10 (2015).