Fachbeitrag
Schluss mit dem Chaos
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Mit nichts als Vaters Segen zum Studium
Richard August Carl Emil Erlenmeyer wird am 28. Juni 1825 in Wehen bei Wiesbaden als Sohn eines evangelischen Dekans geboren. Obwohl bei 7 Geschwistern das Geld knapp ist, darf Emil das Gymnasium besuchen und danach strebt er ein naturwissenschaftliches Studium an. Auf schnellen Broterwerb gerichtet, studiert er zunächst in Giessen Medizin. Als Emil jedoch 1844 bei Justus von Liebig die erste Chemie-Vorlesung hört, sattelt er sofort um. Vaters Segen ist ihm gewiss, aber um die Finanzierung muss sich Emil selbst kümmern. Emil hofft deshalb auf eine Hilfsassistentenstelle bei Liebig, doch der hat keine und so geht Emil nach Heidelberg und hospitiert bei Gmelin. Dieses erste Blitzstudium schließt Erlenmeyer bereits 1846 mit dem pharmazeutischen Staatsexamen ab.
Erfolgloses Pharmazie-Startup
Zurück in Giessen, erhält Erlenmeyer eine Hilfsassistentenstelle bei Heinrich Will, der rechten Hand Liebigs. Doch das symbolische Gehalt reicht nicht zum Leben. So arbeitet Erlenmeyer zeitweise auch noch beim Nestor der Analytischen Chemie Fresenius in Wiesbaden und jobbt nebenher als Berufsschullehrer. Auf der Suche nach einer Erwerbsquelle, kauft er auf „Pump“ eine Apotheke in Katzenelnbogen. Doch das Geld lässt sich nicht herauswirtschaften und so muss er sie 1849 wieder veräußern. Als er dann 1850 reich heiratet, erwirbt er in Wiesbaden wiederum eine Apotheke. Dieses Mal will Erlenmeyer die Apotheke zur chemischen Fabrik ausbauen. Doch was nützen Produkte ohne Vertrieb und Marketing? So scheitert auch dabei Erlenmeyer, er muss 1855 verkaufen und verliert sein gesamtes Geld.
Unter Sonnenkönig Bunsen in Heidelberg
Immerhin hat Erlenmeyer 1849 nebenher bei Liebig über Cyanid promoviert. Doch Liebig, von seinem Landesfürsten finanziell knapp gehalten, kann keine Karriere bieten, und so geht Erlenmeyer als Habilitand zu Robert Bunsen. Der weltberühmte Mitbegründer der Spektralanalyse residiert in der Universität Heidelberg wie ein absoluter Herrscher. Einerseits prahlt Bunsen: „Ich kann gar nicht soviel Geld ausgeben, wie der Großherzog mir geben möchte“. Anderseits ist sein geheiligtes Spektroskopie-Labor anderen Chemikern für eigene Experimente verboten. So müssen alle Dozenten und Habilitanden, auch Erlenmeyer, außerhalb der Universität auf eigene Kosten in Privatlabors forschen.
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Strukturchemie aus Kaffeedunst
Ist für den Wiener Literaten der Gang ins Kaffeehaus die Quelle der Inspiration, so geht der Heidelberger Chemiker des Jahres 1856 zum chemischen Plauderstündchen auf einen kleinen Kaffe zu Erlenmeyer ins Labor. In hitzigen Diskussionen entwickeln hier unter Erlenmeyers Moderation Adolf von Baeyer, Julius Meyer und August Kekulé die Grundzüge von Strukturchemie und Periodensystem. Geld bringt das Erlenmeyer genauso wenig wie die Habilitation (1857) und der außerordentliche Professor (1863). Erst 1868 erhält Erlenmeyer – von Liebig vermittelt – eine dotierte Professur in München an der Polytechnischen Schule.
Wer etwas verstehen will, geht zu Erlenmeyer
Auch wenn Erlenmeyer der finanzielle Erfolg versagt bleibt, sein Ruf als Lehrer war seit Hilfsassistentenzeiten legendär. Wo andere mit Faktenhuberei oder spekulativen Thesen brillieren, bietet Erlenmeyer begründete Erklärungen. „Wer die Theorien verstehen wollte, der ging in die Vorlesungen von Erlenmeyer“, blickt später beipielsweise der Nobelpreisträger Willstätter zurück. Zu Erlenmeyers Studenten gehören u. a. die Größen der russischen Chemie Beilstein und Borodin. Auch Julia Lermontova, erste promovierte Chemikerin der Welt und Viktor Meyer, Bestimmer der Molmasse, absolvieren ihren Grundkurs bei Erlenmeyer. Der Mitschöpfer des Periodensystems, der Russe Mendeleev, arbeitet als Postdoc im Labor Erlenmeyers.
Wovon Kekulé nur träumte
Um 1858 greift Kekulé Ideen der Franzosen Laurent und Gerhardt auf und postuliert die „Vierwertigkeit“ des Kohlenstoffs. Erlenmeyer in Heidelberg sowie Butlerov in St. Petersburg beweisen sie, Erlenmeyer sogar anhand der Dreifachbindung im Äthin (Acetylen). Später präzisiert Erlenmeyer den Begriff der Wertigkeit ohne Kohlenstoff am Beispiel der Azo-Gruppe. Als Kekulé dann 1865 eine Strukturformel für das bis dahin rätselhafte Benzen (Benzol) vorschlägt, liefert Erlenmeyer mit der Synthese des Naphthalins eines der Beweisstücke. Später bestätigt Baeyer mit der Strukturaufklärung des Indigos die neuen Theorien. Diese wesentlichen Beiträge seiner Mitstreiter erwähnt Kekulé allerdings nie, sondern erzählt, die Benzolformel sei ihm im Traum erschienen. Diese in Damenkränzchen höherer gebildeter Stände und in Kreisen der Tiefenpsychologie äußerst beliebte Legende macht Kekulé auch in der Wissenschaftsgeschichte zum „Vater der Strukturchemie“.
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Selbstloser Mentor der Strukturchemie
Ganz anders der bescheidene Erlenmeyer, der stets nur auf den Fortschritt der Chemie und kaum auf seinen Ruhm schaut. Ab 1859 arbeitet er als Redakteur u. a. der „Zeitschrift für Chemie“, ursprünglich als Zusatzverdienst, bald aber aus Begeisterung. Unermüdlich wertet Erlenmeyer die Arbeiten anderer aus, vergleicht sie miteinander und publiziert Zusammenfassungen, die in den Schlussfolgerungen oft über die Originale hinausgehen. So präzisiert Erlenmeyer den Begriff der „Wertigkeit“ und setzt ihn in heutiger Bedeutung durch. Und die vom Engländer Couper vorgeschlagenen Strukturformeln in Valenzstrich-Schreibweise werden nur durch Erlenmeyers „Propaganda“ zum Standard. Kurzum, Erlenmeyer ist die treibende Kraft bei der Beendigung des Chaos in der chemischen Theorie.
Beim Insider-Geschäft als Liebigs Strohmann
„Ich habe bereits Baron Hirsch als Hauptfinanzier für die „Bayerische Aktiengesellschaft für Chemische und Landwirtschaftlich-chemische Fabrikate“ gewonnen, doch nun müssen Sie ran Erlenmeyer, nur Sie haben das technische Wissen! Schließlich haben Sie ja bei Bunsen über „Superphosphat als Düngemittel habilitiert“, beschwört Liebig 1857 seinen ehemaligen Schüler. Liebig ist durch Erfindung des Fleischextrakts und seine populärwissenschaftlichen Publikationen, u. a. zur Agrikulturchemie, der zu diesem Zeitpunkt weltweit bekannteste Chemiker und möchte aus seinem Renommé endlich Geld schlagen. Hirsch, Liebig und eine Reihe von Honoratioren werden Aktionäre. Erlenmeyer kann sich keine Aktien leisten und macht den Aufsichtsrat. Doch die Aktiengesellschaft wird zum Flop: Denn für die damals übliche extensive Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehzucht reicht noch der Einsatz von Jauche und Mist. Liebig und Hirsch stört der Wertverlust der Aktien allerdings wenig: Durch den Bau der Fabrik sind sie an geheime Streckenpläne der Eisenbahn gekommen und verdienen sich mit Grundstücksspekulationen eine Goldene Nase.
Vom „Laborgerät mit lächerlichem Aussehen“ zum Serienprodukt
Weil es sehr viele Laborunfälle durch Flüssigkeitsspritzer gibt, fehlt offensichtlich ein Laborgefäß, das Spritzen und Überschwappen beim Schwenken und Schütteln verhindert. So skizziert Erlenmeyer um 1875 ein Glasgefäß mit sich nach oben verengendem Hals. Eine für damalige Zeiten absolut ungewöhnliche Form, so dass ein amerikanischer Kollege kommentiert: „Although this device has a ridiculous shape and a strange name, it‘s a very useful tool.“ Zunächst lässt es Erlenmeyer vom Institutsglasbläser in der TU stückweise anfertigen, dann springt die Idee sehr schnell auf die chemischen Institute der Uni über und wird auch von den externen Glasbläsern Münchens begeistert aufgegriffen. Weil sich „regelmäßiger Bedarf für Laboratoriumsgebrauch geltend gemacht hat“ bieten bereits 1895 SCHOTT & Genossen „Kochflaschen nach Erlenmeyer“ aus Jenaer Geräteglas an. 1927 wird der Erlenmeyerkolben dann nach DIN standardisiert. Heute ist der „Erlenmeyer“ aus DURAN® gefertigt nach wie vor ein Renner im SCHOTT Laborglasprogramm. Übrigens hatte Erlenmeyer auch das Asbestnetz gegen das Zerspringen von Glasgefäßen durch ungleichmäßige Erhitzung erfunden. Und es ist die Firma SCHOTT, die später mit der CERAN® Glaskeramikplatte den modernen Ersatz für das Asbestnetz erfindet.
Weit vorn beim Nobelpreis-Ranking
Der Erlenmeyerkolben hat sich durchgesetzt und in jedem Lehrbuch findet man die Erlenmeyer-Regel: „Mehr als eine OH-Gruppe am selben C-Atom ist instabil.“ Erlenmeyers Verdienste um die Strukturchemie, um viele Chemie- und Pharmazie-Zeitschriften, sind heute weitgehend vergessen. 1860 war er Mitgestalter des ersten internationalen Chemiker Kongresses. Am Aufbau der Deutschen Chemischen Gesellschaft war er von 1874 bis 1884 als Vizepräsident und dann als Präsident beteiligt. Die moderne GDCh hat ihn aber in den Zeittafeln auf ihrer Website vergessen. Als Direktor der Technischen Hochschule München (1877-80) ärgerte er sich im Streit mit der Kultusbürokratie krank und emeritierte 1883 vorzeitig. „Der Mann, mit dem der Umgang ein Vergnügen war“ wurde jedoch damals von seinen dankbaren Schülern nicht vergessen, sie halten bis zu seinem Tod 1909 regen Kontakt. Belli und Gans (Cassella) versorgen ihn sogar mit wohldotierten Beraterverträgen. Ansonsten spricht die heute so beliebte Wissenschaftsgenealogie für sich: Mit Zsigmondy, Windaus, Butenandt, Huber und Deisenhofer fallen ziemlich viele Nobelpreisträger in die Erlenmeyer-Linie.