Mechanochemie – eine lösungsmittelfreie Synthesemethode
Reaktionen in Kugelmühlen
In der Chemie wird eine Reaktion häufig nach der Art der Energiezufuhr klassifiziert. Die bekanntesten Reaktionstypen sind daher thermisch (Energiezufuhr durch Erhitzen), elektrochemisch (Energiezufuhr durch elektrischen Strom) und photochemisch (Energiezufuhr durch optische Wellen). Weniger geläufig ist die Mechanochemie, bei der die Energie durch Prall- und Scherkräfte eingetragen wird; üblicherweise werden zur Durchführung dieser Reaktionen Kugelmühlen verwendet. Das 21. Jahrhundert brachte ein wachsendes Bewusstsein für die Umweltauswirkungen chemischer Reaktionen mit sich, und Chemiker begannen, Alternativen zu Lösungsmitteln zu untersuchen bzw. diese ganz zu vermeiden.
So gewann die Mechanochemie langsam an Bedeutung, z. B. in der Organischen Chemie, wo sich schnell herausstellte, dass Reaktionen wie C-C-Kupplungen, Oxidationen, Reduktionen und perizyklische Reaktionen in Kugelmühlen möglich sind. Es zeigte sich, dass mit der Mechanochemie einige Reaktionen schneller und damit energiesparender als mit der klassischen Methode unter Verwendung von Lösungsmitteln durchgeführt werden können. Außerdem lassen sich mit der Mechanochemie Probleme wie eine schlechte Löslichkeit der Edukte umgehen, Reaktionen erzwingen, die in Lösungsmitteln nicht möglich sind, oder Zwischenprodukte stabilisieren und reinigen. Insgesamt bietet die Mechanochemie neue Möglichkeiten, Prozesse nachhaltiger zu gestalten und neue Reaktionen zu entwickeln [1].
Vorteile mechanisch-chemischer Reaktionen im Vergleich zu lösungsmittelbasierten Verfahren:
- Ohne Lösungsmittel können bis zu 90 % der Reaktionsmasse vermieden werden, was nicht nur die Kosteneffizienz und die Umweltfreundlichkeit erhöht, sondern auch die Sicherheit in der Handhabung. Zudem muss weniger Zeit für die Suche nach dem für eine Reaktion am besten geeigneten Lösungsmittel aufgewendet werden.
- Erforschen neuer Reaktionswege, da auch unlösliche Edukte verwendbar sind, Zwischenprodukte stabilisiert werden oder sich die Reaktionen von denen in Lösungsmitteln unterscheiden.
- Zeitersparnis, da die Reaktionen in der Regel in einigen Minuten bis Stunden ablaufen, verglichen mit bis zu mehreren Tagen bei Reaktionen in Lösungsmitteln
- Ggf. sind bei passenden Bedingungen auch höhere Ausbeuten möglich
Wie funktioniert Mechanochemie?
Für die Mechanochemie scheint die Art des Energieeintrags eine entscheidende Rolle zu spielen. Während bei Planeten-Kugelmühlen die Reibung als Zerkleinerungsprinzip vorherrscht, ist es bei Schwingmühlen der Prall. Einige Reaktionen lassen sich in Planeten-Kugelmühlen effizienter durchführen, während andere eher den Prallmodus von Schwingmühlen erfordern. Neben dem Mühlentyp mussten die Wissenschaftler die Parameter „klassischer“ chemischer Reaktionen, wie Konzentration und Temperatur, für die Übertragung auf eine Kugelmühle neu bewerten, da diese in der lösungsmittelfreien Umgebung anders sind.
Bislang sind die verschiedenen Einflüsse Gegenstand von Untersuchungen, da noch nicht klar ist, was die mechanochemischen Reaktionen wirklich antreibt. Ist es die Energie, die durch Prall eingetragen wird – und ist mehr Energieeintrag immer von Vorteil? Ist es die Schaffung neuer Oberflächen durch die Kugeln, so dass mehr Oberfläche zur Reaktion bereit steht? Sind es die guten Mischeffekte? Oder ist es auch die vergleichsweise hohe Konzentration der Edukte im Vergleich zu der in Lösungen? Hohe Temperaturen zwischen den Kugeln, wenn sie aufeinanderprallen? Oder eine Mischung aus allem?
In jedem Fall ist die Größe der Mahlkugeln von entscheidender Bedeutung, da die Kugeln selbst die Reaktion auslösen und eine neue reaktive Oberfläche schaffen müssen, indem sie die reagierte Schicht entfernen. Sind die Kugeln zu klein, ist die zugeführte Energie unzureichend, die Partikel neigen außerdem zur Agglomeration. Sind die Kugeln zu groß, werden zwar Reaktionen eingeleitet, aber die Anzahl der reaktiven Zusammenstöße ist eher gering und das Reaktionsprodukt wird nicht effizient von der Partikeloberfläche entfernt, was zu geringen Reaktionsraten führt. Geeignet sind Kugeln mit einem Durchmesser von 5 bis 15 mm, was einen guten Kompromiss darstellt. Auch das Material des Probengefäßes und der Kugeln ist bei mechanochemischen Anwendungen sehr wichtig. Der Werkstoff muss gegen die jeweiligen Chemikalien beständig sein und darf die Reaktion selbst nicht beeinträchtigen. Hier kommt z. B. Zirkonoxid oder rostfreier Stahl zum Einsatz.
Mechanochemische Synthesen in Kugelmühlen
Im Gegensatz zu den früher verwendeten Mörsern sind mit Kugelmühlen eine präzise Steuerung der Reaktionsbedingungen, eine große Bandbreite an Energieeintrag und das Durchführen von Reaktionen in geschlossenen Gefäßen möglich. Hier kommen z. B. Planeten-Kugelmühlen und Schwingmühlen zum Einsatz. Das Funktionsprinzip der beiden Mühlentypen unterscheidet sich.
Planeten-Kugelmühlen
Die Mahlbecher einer Planeten-Kugelmühle sind exzentrisch auf dem Sonnenrad angeordnet. Die Bewegungsrichtung des Sonnenrads ist der der Mahlbecher in einem bestimmten Verhältnis entgegengesetzt. Die Mahlkugeln in den Mahlbechern sind überlagerten Rotationsbewegungen, den sog. Corioliskräften, ausgesetzt. Durch den Geschwindigkeitsunterschied zwischen Kugeln und Mahlbechern entsteht eine Wechselwirkung zwischen Reibungs- und Prallkräften, die hohe dynamische Energien freisetzt. Das Zusammenspiel dieser Kräfte bewirkt den effektiven Zerkleinerungsgrad der Planeten-Kugelmühle. Es gibt verschiedene Typen mit unterschiedlicher Anzahl von Mahlbechern in verschiedenen Größen.
Schwingmühlen
Schwingmühlen zerkleinern hauptsächlich durch Prallwirkung und wurden ursprünglich für die schnelle, unkomplizierte Homogenisierung von kleinen Probenmengen bis zu 20 ml konzipiert. Die Mahlbecher führen radiale Schwingungen in horizontaler Lage aus. Durch die Trägheit der Mahlkugeln prallen diese mit hoher Energie auf das Probenmaterial an den abgerundeten Enden der Becher und zerkleinern dies. Die Bewegung von Mahlbecher und Mahlkugeln führt außerdem zu einer intensiven Durchmischung der Probe.
Einfluss der Temperatur
Neben dem Funktionsprinzip, dem verwendeten Werkstoff, der Größe und Anzahl der Mahlkugeln und dem Energieeintrag kann auch die Temperatur einen großen Einfluss auf die Effizienz der Reaktion haben oder auch die Art der Reaktion bestimmen. Auf der INCOME 2022 (International Conference on Mechanochemistry and Mechanical Alloying) wurde deutlich, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft großes Interesse an Mühlen mit Heizoption hat, um ein neues Konzept zu verwirklichen, das sich unter diesem Motto zusammenfassen lässt: „beat and heat“. Neben der Erhitzung kann auch die Kühlung einen Einfluss auf die Reaktion haben. In einigen Fällen ist kein Einfluss erkennbar.
Die folgenden Beispiele zeigen, ob und wie die Temperatur die chemische Reaktion beeinflussen kann:
Interessante Ergebnisse wurden von einer Forschungsgruppe von Stuart James [2] vorgelegt. Sie führten eine chemische Reaktion in der Retsch-Schwingmühle MM 400 bei verschiedenen Temperaturen und Mahlfrequenzen durch und zeigten für diese Reaktion, dass nur die Frequenz einen Einfluss auf die Kinetik der Reaktion hatte (Bild 1), während eine Erhöhung der Temperatur keine Auswirkungen hatte. Dieses Beispiel zeigt auch, dass mit steigender Frequenz die Reaktion beschleunigt wird, da die Kugel(n) die Reagenzien häufiger in einer bestimmten Zeitspanne trafen.
Auch gibt es Reaktionen, welche über mehrere thermisch instabile Zwischenprodukte ablaufen, die kontrolliert werden können, indem man während der Synthese gleichzeitig kühlt. Hierzu wurden Versuche in der Schwingmühle MM 500 control durchgeführt: Die Temperatur des externen Chillers wurde auf –5 °C eingestellt; das Kühlmittel kühlt die Thermoplatten und damit die Becher und die Probe. Die thermisch instabilen Zwischenprodukte konnten so stabilisiert und ihre Ausbeute insgesamt erhöht werden. An einer Synthese der zeolithischen Imidazolat-Gerüstverbindung ZIF-8 aus 2-Methylimidazolium und Zinkoxid wurde gezeigt, dass Produkte in einem mechanochemischen Prozess durch unterschiedliche Temperaturniveaus erzeugt werden können (Bild 2). Mit der hier verwendeten Schwingmühle MM 500 control können durch den Anschluss an einen Kryostaten oder an das „CryoPad“ auch Reaktionen in Temperaturbereichen bis hinunter zu –100 °C durchgeführt werden. Damit ergeben sich Möglichkeiten zur Erforschung verschiedener Synthesen und neuartiger Synthesewege.
Auf der anderen Seite gibt es in der Mechanochemie auch Reaktionswege, bei denen eine höhere Temperatur die Reaktion beschleunigt, ein Beispiel ist die Suzuki-Miyaura-Kreuzkupplungsreaktion [3]. In diesem Fall wurden Wärmepistolen verwendet, um die Mahlbecher der hier eingesetzten Schwingmühle MM 400 zu erhitzen. (Die Beheizung von Mahlbechern wäre hier auch kontrolliert mit der Schwingmühle MM 500 control möglich.) Ein weiteres Beispiel für den Effekt der Erwärmung in einer mechanochemischen Reaktion ist in Bild 3 dargestellt. In diesem Projekt geht es um die Reaktion eines primären Amins mit Phthalsäureanhydrid. Der Prozess bei Raumtemperatur (durchgeführt in der Schwingmühle MM 500 vario, mit ähnlichen Ergebnissen auch in der MM 500 control bei Raumtemperatur) produziert nur das Monoamid, während die Reaktion beim dreistündigen Mahlen bei 80 °C das gewünschte Imid in etwa 75 % isolierter Ausbeute liefert.
Literatur
[1] Cuccu, Prof. Dr. Lidia De Luca, Prof. Dr. Francesco Delogu, Prof. Dr. Evelina Colacino, Prof. Dr. Niclas Solin, Dr. Rita Mocci, Prof. Dr. Andrea Porcheddu: Mechanochemistry: New Tools to Navigate the Uncharted Territory of “Impossible” Reactions; doi.org/10.1002/cssc.202200362
[2] Ma. X., Yuan, W., Bell, S. E., James, S. L. (2014): Better understanding of mechanochemical reactions: Raman monitoring reveals surprisingly simple ‘pseudo-fluid’ model for a ball milling reaction. Chemical Communications, 50(13), 1585-1587.
[3] Kubota, Ito et al.: Tackling Solubility Issues in Organic Synthesis: Solid-State Cross-Coupling of Insoluble Aryl Halides. Journal of the American Chemical Society, March 30, 2021. DOI:10.1021/jacs.1c00906; Tackling Solubility Issues in Organic Synthesis: Solid-State Cross-Coupling of Insoluble Aryl Halides
AUTORIN
Dr. Tanja Butt
RETSCH GmbH, Haan
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