Fachbeitrag
Rekombinantes Sendai-Virus
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Richard E. Schneider*)
- Freier Wissenschaftsjournalist, Brunnenstr. 16, 72074 Tübingen.
Das Sendai-Virus (SeV) wurde erst 1952 entdeckt und ist mit nur sechs Genen relativ klein. Deshalb eignet es sich besonders gut für die Genom-Forschung. Es gehört zur Gruppe des Paramyxoviren, kann bei Säugetieren wie Mäusen, Ratten, Meerschweinchen etc. rasch und leicht Atemwegserkrankungen verursachen. Für den Menschen ist es jedoch ungefährlich.
Bekannt wurde das SeV durch die späteren Nobelpreisträger Cesar Milstein, Cambridge/GB, und George Köhler, Freiburg i.Br, als sie die Fusionseigenschaften des Virus einsetzten. Sie stellten um 1975 sog. Hybridoma her, indem sie eine monoklonale B-Zelle, die einem beliebigen Antigen ausgesetzt wurde, mit einer Tumorzelle (Myeloma-Zelle) verschmolzen. Dadurch kann sich die Hybridzelle wie eine Tumorzelle unbegrenzt und rasch vermehren, entwickelt dabei spezifische, auf das jeweils präsentierte Antigen abgestellte Antikörper. Diese monoklonalen Antikörper des SeV von Milstein/Köhler wurden zum Grundstein neuer Diagnosemethoden sowie der Krebsbekämpfung, speziell der niedrig-malignen Krebserkrankung Non-Hodgkin-Lymphome (NHL), die zuvor als unheilbar galt.
Um das Jahr 1975 begann Prof. Wolfgang J. Neubert, Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried, mit der Erforschung des Sendai-Virus. „Es ist wie beim Bergsteigen“, sagt er rückblickend, „je mehr Teil-Erkenntnisse man gewinnt, desto höher will man hinauf und das Ganze überblicken.“
Sicher wie Totimpfstoff
Im Jahr 2005 war er mit seinem Team am Ziel: Er hatte das Genom mehrfach „auseinandergenommen“, verschiedene Virusmutanten mithilfe von Gentechnik erzeugt, und herausgefunden, welche Schritte für die Virus-Vermehrung notwendig sind und welche nicht. Er wollte die Transkription der Gene, jedoch nicht mehr die Replikation der RNA. Um die Polymerase-Prozesse in diesem Paramyxovirus an die Leine zu legen, ordnete er sie neu. Er entfernte den Genabschnitt, der die genetische Information für die ersten 77 Aminosäuren des viralen P-Proteins enthält, aus dem Genom des SeV. Dadurch konnte er dessen Replikationsmechanismus ausschalten. Für die Impfstoff-Forschung bedeutete dies, dass man im Körper des Impflings mithilfe des Vektors SeV einen Impfstoff platzieren kann, dessen Vermehrung und Ausbreitung nicht möglich ist. Damit hatte man in Bezug auf die sichere Anwendung die Qualität eines Totimpfstoffs erreicht.
Im nächsten Schritt fügten die Max-Planck-Wissenschaftler das Fusions-Gen des Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) in das veränderte, neu nun sieben Gene umfassende Sendai-Arbeits-Virus ein. Gegen das RSV, das schwere Atemwegs-Erkrankungen bei Kindern, älteren oder immungeschwächten Menschen auslöst und zu deren Tod führen kann, gibt es bisher keinen Impfschutz. Rund 72 % aller Kleinkinder unter acht Monaten mit schweren Atemwegserkrankungen leiden an RSV-Infektionen. Das Gen für das neue F-Protein wurde so in das virale Rückgrat des SeV eingesetzt, berichtet Prof. Neubert, dass es erst in den durch das Virus infizierten Zellen des Impflings zur Bildung des viralen F-Proteins kommt. Dies bewirken die spezifischen Strukturen der Virushülle.
Ein weiteres Problem, das umgangen werden musste: Die einzelsträngige virale RNA des SeV mit negativer Polarität kann gentechnisch nicht verändert werden. Deshalb musste sie zunächst in cDNA umgeschrieben werden, aus der wieder RNA-Viren herstellbar waren. En detail: Die cDNA wurde mit den weiteren Plasmiden N, P und L, die für die inneren Proteine des SeV kodieren, in Zellen transferiert. Durch einen intrazellulären Umschreibeprozess entstand virale RNA, die von den drei Proteinen N, P und L verpackt wurde. Damit war der virale Lebenszyklus wieder geschlossen. Die im Körper des Patienten freigesetzten Proteine umfassen zwar alle funktionellen viralen Proteine, jedoch ist das P-Gen stabil verkürzt, was bedeutet, dass sich das Se-Virus in neuen Zellen nicht vermehren kann.
Bei der Produktion der Viren ist man auf Hilfszellen angewiesen. Prof. Neubert gelang es hierzu, mit einem Plasmid-Vektor in die Hilfszellen genau jenen viralen RNA-Abschnitt einzuschleusen, der für ein intaktes P-Protein kodiert. Damit ist die Virus-Produktion für den Impfstoff gesichert, im Impfling ist eine Vermehrung der Viren jedoch ausgeschlossen und nur die Menge an Impfviren, die verabreicht wurde und in einzelne Zellen eindrang, wird kontrolliert Virusantigene synthetisieren und damit die Immunantwort auslösen. Mit dieser einzigartigen Technologie lassen sich identische Impfviren herstellen. Weiter können die zu verabreichenden Impfdosen genau auf die Bedürfnisse des Impflings abgestimmt werden, was bei Kleinkindern besonders wichtig ist.
Fusions-Protein aus dem RSV
Das Fusions-Protein F des RS-Virus besitzt die wesentlichen antigenen Bestandteile und ist in allen bekannten Varianten des RSV ähnlich bzw. stabil. Es wurde so in das virale Rückgrat des Impfstoffs eingesetzt, dass es erst in den durch das Impfvirus infizierten Zellen im Impfling als virales F-Protein gebildet wird. Der Impfstoff enthält also nur die genetische Information für das F-Protein, das selbst in den Zellen des Impflings gebildet wird. Für die Immunreaktion des Impflings sind die spezifischen Strukturen der Virushülle entscheidend. Dank der neuen Technologie kann aber auch eine teilweise bereits vorhandene Immunität des Impflings das neue Impfvirus nicht unschädlich machen und dessen immunogene Wirkung verhindern. Eine genetische Vermischung mit Wildtyp-Infektionen ist ebenfalls ausgeschlossen, weil die homologe Rekombination bei diesen Paramyxoviren nicht möglich ist. Vom Impfling werden auch keine Viren in die Umgebung freigesetzt, wie dies z.B. bei Polio-Lebendimpfungen der Fall ist.
Bisher unterschieden die Vakzine-Experten nur in attenuierte (abgeschwächte) Lebend-Impfstoffe und Totimpfstoffe. Vor einigen Jahren empfahl die STIKO (Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut), Berlin, für die Polio-Schutzimpfung nur noch Totimpfstoffe zu verwenden. Nur im Falle eines Krankheitsausbruchs wird der immunologisch vollständiger wirkende attenuierte Lebendimpfstoff noch eingesetzt. Dabei müssen jedoch alle mit dem Impfling unter einem Dach lebenden Personen ebenfalls geimpft werden. Sonst kann es zu einer – seltenen – VAPP (Vakzine-Assoziierte Paralytische Poliomyelitis) kommen.
Bei dem neuen Impfvektor, dem gentechnisch veränderten Sendai-Virus mit dem RSV-Gen, handelt es sich faktisch um einen Lebend-Impfstoff. Deshalb ist eine breite Immunantwort des Impflings möglich, ohne dass es zu Nachteilen wie der unkontrollierten Vermehrung des Impfstoffs im Patienten kommt.
Überraschend kurzer Weg
Für die Applikation seines neuen Impfstoffs gegen das respiratorische Synzytial-Virus (RSV) wählte Prof. Neubert einen angenehmeren Weg als den Nadelstich beim Impfen: Mit einem Nasenspray können die Schleimhäute des Nasen-Rachenraums, wo das RS-Virus siedelt, leicht und direkt erreicht werden. Die Impfviren werden mukosal appliziert und können so prophylaktisch auch die Organe der Atemwege effizient schützen. In der Mucosa des Nasenraums werden antivirale IgA-Antikörper, die erste Barriere gegen die Virusinfektion, sowie IgG-Antikörper und zytotoxische T-Zellen erzeugt, die im Blut zirkulierende RS-Viren und RSV-infizierte Zellen eliminieren können. Erste vorklinische Studien verliefen erfolgversprechend und der neue Impfstoff wird nach weiteren positiven Ergebnissen in die klinische Prüfung gehen können. Er könnte das weltweit erste Nasenspray als prophylaktische Impfung gegen RSV auf dem Markt sein.
Die bahnbrechende Entdeckung von Prof. Neubert führte zu einer umfassenden, engen vertraglichen Bindung des Schweizer Biopharma-Unternehmens AmVac AG, Zug, mit der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und ihren Forschern. Über ihre Tochter Max-Planck-Innovation erwarb die MPG eine Firmenbeteiligung an AmVac. Weiter verpflichtete sich das Unternehmen zu Vorab- und Meilenstein-Zahlungen sowie zu Lizenzzahlungen aus zukünftigen Verkäufen. Nicht nur für das respiratorische synzytiale Virus RSV, sondern auch für bisher mit Impfprophylaxe nicht erreichbare Erkrankungen stellt das genomveränderte Sendai-Virus einen neuen, interessanten Vektor dar.