Fachbeitrag
Biokalorimetrie in der Wirkstoffforschung
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Dipl.-Ing. Oliver Jenner *)
- MicroCal, Milton Keynes, England, Tel 0044 1908 576330, Fax 0044 1908 576339, E-Mail: [email protected].com
Die Biokalorimetrie ist durch die experimentell einfach zugängliche und zuverlässige Bestimmung von thermodynamischen Daten molekularer Interaktionen gekennzeichnet. Eine Vielzahl an biologischen Systemen und deren Zusammenhänge von Struktur/Funktion, Kinetik und Thermodynamik beschreibt die Biokalorimetrie recht treffend. Dank des großen Fundus an überwiegend akademischen Veröffentlichungen haben sich mittlerweile Routineanwendungen etabliert, die den Weg in viele Laboratorien der pharmazeutischen Industrie gefunden haben. Mit den thermodynamischen Daten, wie sie die Biokalorimetrie liefert, sind die Chancen für eine erfolgreichere Wirkstoffforschung in den pharmazeutischen-, agrochemischen- und biotechnologischen Bereichen wesentlich gestiegen.
Biokalorimetrie in Forschung und Industrie
Die Biokalorimetrie, seit längerem im universitären Bereich etabliert, findet zunehmend auch eine breitere Akzeptanz in der pharmazeutischen Industrie. Dass die Biokalorimetrie erst jetzt verstärkt in den industriellen Fokus gelangt, wird verständlich, blickt man einige Jahre in der Wirkstoffforschung zurück. In den Vergangenheit war die Forschung zweifellos technologisch getrieben. Vordringlich wurde die Erforschung von Leitsubstanzen durch das High Troughput Screening (HTS) mit seinem parallelen und massenhaften Abarbeiten von Substanzen vorangetrieben. Das HTS hat die hoch gesteckten Erwartungen an ein effizienteres und schnelleres Wirkstoffscreening nur teilweise erfüllen können. Mit ein Grund für die zum Teil erfolglose Suche nach geeigneten Wirkstoffkandidaten ist das lückenhafte Verständnis molekularer Bindungen von Zielmolekülen an die gewünschten Proteine. Eine Reihe neuer biophysikalischer Methoden wie die Surface Plasmon Resonance (SPR), NMR-Spektroskopie, Röntgenstrukturanalyse und die Biokalorimetrie tragen zu einer neuen Sichtweise auf die Bindungsmechanismen von biochemischen Systemen bei. Die neueren Methoden sind bezüglich Durchsatz und Quantität nicht vergleichbar mit dem HTS, eröffnen sie doch eine deutlich höhere Datenqualität des untersuchten Systems.
Die nachfolgend beschriebenen biophysikalischen Methoden ITC und DSC beziehen sich auf Geräte und deren Anwendungen, bei denen biochemische Systeme in ausschließlich wässriger Lösung oder Pufferlösung untersucht werden. Pro Experiment sind einige Mikrogramm an Substanz notwendig. Durch die in wässrigen Lösungen vorhandenen Moleküle sind Experimente im Temperaturbereich von ca 0...80 °C (maximal 130 °C) möglich. Der ITC und DSC gemeinsam ist die Tatsache, dass alle chemischen und biologischen Reaktionen mit einem charakteristischen Verbrauch bzw. Erzeugung an Wärme gekennzeichnet sind. In der Mikrokalorimetrie muss das Molekül weder optisch messbar gemacht werden (Labeln), noch muss eine Immobilisierung vorgenommen werden. Die Moleküle sind direkt in der gewünschten Lösungsmittel- oder Pufferlösung messbar.
Isothermale Titrationskalorimetrie
Mit der ITC gewinnt man Aussagen über die Affinität zwischen zwei Reaktionspartnern. Sie ermöglicht es, systematische Untersuchungen von Interaktionen von z.B. Proteinen mit Liganden durchzuführen. Während in einer Serie unterschiedlich strukturierte Liganden oder Fragmente mit einem Protein untersucht werden, erhält man durch die ITC für jede Reaktion ein charakteristisches thermodynamisches Profil.
Das ITC besteht aus einer Mess- und Referenzzelle. Beide Zellen habe die gleiche Form und gleiches Innenvolumen. Die Volumina betragen je nach Gerätetyp zwischen 200 µl und 1,4 ml. Sie befinden sich in einem adiabatischen Behälter und sind damit thermisch gegenüber der Außenwelt abgeschirmt. Die Zellen werden durch eine Heizung auf gleicher Temperatur gehalten und haben während der Messung eine etwas höhere Temperatur als deren Umgebung. Die Reaktionswärme ist aufgrund der kleinen Mengen der Reaktionspartner so gering, dass eine absolute Messung nicht möglich ist. Deshalb wird die Differenz zwischen Mess- und Referenzzelle gemessen. Mit einer motorisch angetriebenen Spritze ( Füllvolumen 40...250 µl) wird in die Messzelle titriert.
Für ein Experiment wird die Spritze mit einer Ligandenlösung, die Messzelle mit Proteinlösung befüllt. Die Referenzzelle ist mit einer Pufferlösung gefüllt. Die Titration besteht aus einer schrittweisen Zugabe ( ca. 2 µl pro Schritt ) des Liganden in die Proteinlösung. In der Regel wird in die Messzelle in 20...30 Schritten Ligand dosiert und während des Experiments gerührt. Auf Grund der Reaktionswärme ändert sich mit jedem Titrationsschritt die Temperatur der Messzelle gegenüber der Referenzzelle. Den Temperaturunterschied gleicht eine elektrische Heizung aus. Wird nun die Heizleistung als Funktion der Zeit aufgetragen, ergibt sich ein typischer Peak während eines Titrationsschritts. Die Fläche unter dem Peak entspricht der Wärmemenge (q). Sie ist äquivalent der Reaktionswärme, die während eines Titrationsschrittes verbraucht oder erzeugt wird. Die Wärmemenge (q) und die Enthalpieänderung ∆H stehen damit in folgendem direkten Zusammenhang: q = V ∆H [∆L] (V = Volumen der Messzelle, [∆L] = Konzentration des hinzu titrierten Liganden)
Die Bindungs- isotherme
Die Anzahl an freien Bindungsplätzen in der Proteinlösung ist am Anfang einer Titration genügend groß, um Liganden zu binden. Entsprechend hoch ist auch die Reaktionswärme. Im Verlauf der Titration nimmt die Anzahl der Bindungsplätze und auch die Reaktionswärme ab. Trägt man nun die einzelnen Peaks, die während der Titrationsschritte entstehen, gegen die Zeit auf, ergibt sich ein Titrationsdiagramm, wie es in der oberen Hälfte im Bild 1 zu sehen ist (Raw Data). Wird nun die Fläche unter jedem Peak integriert und der Wert gegen die molare Konzentration des Proteins aufgetragen, ergibt sich eine Reihe an Messpunkten (untere Bildhälfte im Bild 1). Die an die Messpunkte mathematisch angepasste Kurve ergibt die Bindungsisotherme (rote Kurve). Die gezeigte Bindungsisotherme stellt eine hyperbolische Sättigungskurve dar. Sie ist typisch für die jeweilige Protein-Ligand-Interaktion.
Thermo- dynamische Daten
Direkt und unmittelbar lässt sich aus dem im Bild 1 aufgezeichneten ITC-Experiment mit einem mathematischen Ansatz die Bindungsisotherme (rote Kurve) modellieren. Sie lässt Aussagen über die Stöchiometrie (n), Bindungskonstante (K) und molare Bindungsenthalpie (∆H) zu. Die experimentell bestimmte Größe ∆H entspricht der gesamten Wärmebilanz der Protein-Ligand-Reaktion. Mit den aus der Bindungsisotherme erhaltenen Größen ∆H und K kann die freie Reaktionsenthalpie ∆G und die Entropie ∆S über folgende Gleichungen berechnet werden:
∆G = – RT lnK
∆G = ∆H – T∆S (Gibbs-Helmholtz-Gleichung)
Somit kann in nur einem ITC-Experiment das thermodynamische Profil einer Reaktion beschrieben werden.
Bestätigung von Bindungsmechanismen
Die ITC kann in Verbindung mit strukturellen Daten aus Röntgenkristallografie und Computermodellierung der beteiligten Moleküle die vorausgesagten Bindungsmechanismen eines Ligand-Protein-Komplexes bestätigen. Sie stellt somit eine wichtige Ergänzung zum computergestützten Wirkstoffdesign dar. Als Interpretation der Gibbs-Helmholtz-Gleichung kann die freie Enthalpie ∆G als Bindungsaffinität zwischen den beteiligten Molekülen bezeichnet werden. Die Enthalpie ∆H repräsentiert den Bindungsmechanismus in Form von Wasserstoffbrücken- und Van der Waals-Bindungen zwischen Protein und Ligand. Der Entropietherm –T∆S ist ein Maß für die Selektivität der Reaktion.
Differential Scanning Calorimetrie (DSC)
Die DSC untersucht die Stabilität von Makromolekülen. Makromoleküle wie Nukleinsäuren, Proteine oder Lipide sind aggregierte Moleküle. Die Aggregation oder Faltung eines Proteins ist auf die lineare Abfolge seiner Aminosäuren zurück zu führen und gibt dem Molekül seine dreidimensionale Struktur. Stabilisiert wird das Protein jedoch überwiegend durch nichtkovalente Anziehungskräfte, wie z.B. Wasserstoffbrückenbindungen, elektrostatische- und hydrophobe Wechselwirkungen im Molekül. Die DSC untersucht die Stabilität von Makromolekülen, also deren Übergang aus der ursprünglichen (nativen) in die denaturierte Konformation.
Das DSC-Gerät besteht aus einer Mess- und Referenzzelle, die sich beide in einem adiabatischen Behälter befinden, der die Zellen thermisch gegen die Umgebung abschirmt. Das Zellvolumen beträgt je nach Gerätetyp ca. 100...500 µl. Die Zellen werden aus chemisch inerten Metallen oder Metalllegierungen gefertigt. Die Eigenschaft, die das Metall haben muss, ist, während der Messung eine Adsorption des Proteins auf der Metalloberfläche zu vermeiden. Für das Experiment wird die Messzelle mit einer Proteinlösung (Konzentration ca. 0,1...2,0 mg/ml), die Referenzzelle mit einer Pufferlösung befüllt. Die Pufferkonzentration ist in Referenz- und Messzelle identisch. Beide Zellen werden ausgehend von einer Anfangstemperatur von ca. 40 °C mit einer definierten Heizrate bis zu einer Endtemperatur von ca. 90 °C aufgeheizt. Während des Laufs gibt das Protein seine geordnete native Struktur auf, es entfaltet sich. Eine endotherm und reversibel verlaufende Entfaltung eines Proteins während eines DSC-Experiments ist in Bild 2 gezeigt. Die für die Entfaltung benötigte Wärme verursacht ein Abkühlen der Probenzelle. Damit beide Zellen wieder die gleiche Temperatur haben, wird die Probenzelle beheizt. Die dabei aufgewendete elektrische Leistung wird in Abhängigkeit der Temperatur dargestellt.
Anwendung der DSC
Die DSC wird in der biopharmazeutischen Entwicklung und Forschung im Protein-Engineering, bei Prozessentwicklung und Formulierung zur Charakterisierung von Proteinstabilitäten eingesetzt. Ziel ist die Optimierung der Lagerfähigkeit und Langzeitstabilität von Proteinen oder Antigenen. Auf molekularer Ebene kann zwischen extrinsischen und intrinsischen Stabilisierungsbedingungen unterschieden werden. Extrinsische Bedingungen, die zur Stabilisierung beitragen, sind: Temperatur, pH-Wert, Pufferzusammensetzung und Lösungsmittelzusätze, also alle von außen auf die Struktur wirkende Größen. Ist ein optimaler pH-Wert oder Puffer gefunden, äußert sich das durch eine Verschiebung des Tm zu höheren Werten. Das Maximum der Wärmekapazitätskurve (Tm)ist demnach ein Indikator für die Stabilität des Proteins. Ein Molekül intrinsisch zu stabilisieren, zielt darauf ab, es punktuell zu modifizieren, bei gleichzeitigem Erhalt seiner Funktionalität. Bei dieser Vorgehensweise wird der Wildtyp chemisch so modifiziert, das die entstandene Mutante einen höheren Tm aufweist, was auf eine thermisch stabilere Struktur hindeutet.
Fazit und Ausblick
Mit der Mikrokalorimetrie kann direkt die Enthalpie von biomolekularen Bindungen bestimmt werden. Mit diesem einfachen Zugang lassen sich prognostizierte Bindungsverhältnisse und Affinitäten zwischen den Molekülen im Zusammenhang mit Computer- und Strukturmodellen bestätigen. Dieses thermodynamische Profil biomolekularer Bindungen ergänzt das molekulare Bild im rationalen Wirkstoffdesign. Die Isothermale Titrationskalorimetrie kann somit als Rückkopplung dienen, um geeignete Wirkstoffkandidaten gezielt z.B. aus dem HTS zu selektieren. Antikörper und andere therapeutisch wirkende Proteine können mit Hilfe der DSC auf ihre Lagerfähigkeit und Langzeitstabilität hin optimiert werden. So gesehen sind ITC und DSC komplementäre Methoden, die sich in der Wirkstoffforschung ergänzen. Der Nutzen in beiden Methoden lässt sich weiter durch eine Reduzierung der Messzeit, verbunden mit einer Automatisierung, steigern. Erfreulicherweise sind Forderungen davon bereits in neueren Geräten verwirklicht worden.